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Hans Misselwitz

Offener Ausgang


in: Martin Hoffmann: Reflexe aus Papier und Schatten.
Berlin, Gerhard Wolf Januspress 1996

Martin Hoffmann hat 1989 ein Plakat gedruckt, das er bereits 1983 begonnen hatte. Mit dem Text -„Forum:“. Man sieht einen runden Tisch mit sechs Stühlen. Kreuz und quer wie im Gespräch. Beobachtend, engagiert, zweifelnd, vermittelnd, verweigernd, abwartend. In der Struktur des Kreises steht das Gespräch noch im Raum. Man sieht es nicht, aber man weiß es: Der Ausgang ist offen. Die Teilnehmer haben den Raum verlassen.

Die sechs Jahre zwischen 1983 und 1989 hat Martin Hoffmann als Jahre der gemeinsamen Arbeit an einer Kultur des Gespräches erinnert. Es widerstrebt ihm, die großen Worte »Verweigerung», »Opposition«, -»Widerstand« zu gebrauchen.
Das offene Gespräch als Einübung in die Freiheit. Das Argument wird nicht als Waffe der Überredung gebraucht. Es kommt auf den jeweils eigenen Beitrag an, auf das freie Angebot des einzelnen, auf die Entdeckung und das Aushalten der Vielfalt. Im Griechischen erinnerte das Wort für Öffentlichkeit ›Parrhesia‹ an die Praxis freimütiger Rede, an den Dialog als Form des öffentlichen Gesprächs. Daraus abgeleitet bezeichnete es auch die Haltung der Unerschrockenheit Höhergestellten gegenüber, war es ein Ausdruck für Selbstvertrauen, auch für innere Zuversicht. Es war ein Wort für den aufrechten Gang, für den Versuch, in der Wahrheit zu leben, wie Vaclav Havels 1980 in deutscher Übersetzung erschienener Essay hieß.

Es war im Frühjahr 1981, als mir irgend jemand in kaum leserlicher Durchschrift den Text einer Rede weitergereicht hatte, die damals ein Ex-Admiral der US-Navy mit dem französischen Namen LaRoque im niederländischen Groningen gehalten hatte. Europa stünde in diesem Jahrzehnt vor der Wahl, entweder die Konfrontation zwischen Ost und West zu überwinden oder zum Schauplatz eines begrenzten atomaren Krieges zu werden. Der Mann vom Fach rechnete kühl auf der Basis statistischer Wahrscheinlichkeit. Ohne jenen an den roten Knöpfen böse Absichten zu unterstellen, kalkulierte er aus 30 Sekunden Vorwarnzeit multipliziert mit dem Faktor menschlichen Versagens das Szenario eines technischen Count down. Unsere Zeit schien auszulaufen. Wie mit dieser Wahrheit leben?

An einem Samstag im Mai 1981 fand ich Martin in den Höfen und Räumen der Elisabeth-Gemeinde in Berlin-Mitte im Trubel eines Festes, das er mit einem Freund für Behinderte und Jugendliche ausgestaltet hatte. Es war ein Markt, ein Treffpunkt mit Kommen und Gehen, Verkleidung, Masken, Schauspiel und Musik. Jugend-liche mit Irokesen-Frisuren und aufgemalten Masken sprangen beim Tanz mit beiden Beinen zugleich senkrecht in die Luft. Eine aggressive Bewegungsform ohne Raumgewinn, eine paradoxe Form des Innehaltens, Atemholens, des letzten Verharrens vor dem Aufbruch. Ich hatte das schon einmal gesehen als Initiationstanz junger afrikanischer Männer, Krieger. Das Fest als Mittel des Zeitgewinns wiederentdecken, als ein Moment Stillstand in auslaufender Zeit.

Was waren wir der Zeit schuldig geblieben? In Bonn protestierten am 24. Oktober 1981 Dreihunderttausend gegen die sogenannte Nachrüstung. Wir versammelten ein paar Hundert in der alten Pankower Kirche unter dem Motto »Gegen Tod-Sicherheit – Für den Frieden«. Gestus und Ton ernster Mahnung, der Klage, der Bekenntnisse und Fürbitten „Eingedenk des Todes ...“ standen in eigenartigem Widerspruch zur Behauptung, hier fände ein Fest statt. Die Feier als Begräbnis der Angst?
Martin Hoffmann klebte aus Packpapier ein Transparent, das den ganzen Kirchenraum wie ein Dach überspannte, und malte darauf den Spruch „Selig sind die Friedensstifter.“ War das ein Nachruf? Nach dem biblischen Urtext hätte es auch „glücklich“ heißen können. Wie oft hätte das gepaßt zum Glück der Begeisterung über die vielen gewonnenen Freunde, zum ausgelassenen Spiel, zur gelungenen Provokation!
Glücklich waren wir nach dem Gelingen, spät in der Nacht am Ende der Feste, wenn alle Stühle, Bänke, Podeste weggeräumt, Plakate und Transparente eingerollt, Pappbecher und Zettel eingesammelt waren, wenn die ganze Gruppe erschöpft vom Tage im Chorraum beieinander saß beim Wein. Täuscht die Erinnerung nicht, so bleibt die Vorstellung von einer glücklichen Zeit.

Es gibt so etwas wie eine protestantische Version der Einübung in die Freiheit, des Innewerdens und Aufbäumens: Luthers „… und wenn morgen die Welt unterginge, würde ich doch heute ein Apfelbäumchen pflanzen“. Jene auf Paulus zurückgehende Denkfigur der Freiheit meint nicht Welt- und Wirklichkeitsferne, sondern eine eigentümliche Form der Ignoranz der ›Welt‹, ihrer Nähe und Macht. Sie spricht vom „Haben-als-hätte-man-nicht“ und von „der Kraft, die in den Schwachen mächtig ist“. Die Macht der Ohnmächtigen ist ihr Gelächter angesichts der Übermacht. Der Versuch, in der Wahrheit zu leben fängt bei Vaclav Havel damit an, daß der Gemüsehändler, der brav die Losungen der Partei ins Fenster vor die Kohlköpfe legte, plötzlich damit aufhört. Mit der Spielregel hat er das Spiel als solches abgeschafft. Ohne Macht über die Menschen bleibt den Herrschenden nur die Gewalt, die sie entlarvt und lächerlich macht.

Keine andere Macht, sondern anders leben. Keine Mehrheitsbeschlüsse, keine Leitung. Den Versuch wagen, Subjekt zu werden. Der erste Grundsatz, den sich der Friedenskreis Pankow Ende November 1981 in einem Grundsatzpapier gab, hieß: „Wir wollen uns gegenseitig fördern und stützen, unserer Verantwortung angesichts des bedrohten Lebens nachzukommen – jede/r aber so, daß sie/er die eigenen Möglichkeiten selbst bestimmt.“
Es war Martin Hoffmann, der im Kreis dafür bekannt war, dem Pathos von steilen Erklärungen Einzelner die Spitze abzubrechen mit der Frage: „Sag, was du selber tun willst!“
Der Akt der Subversion lag in der selbstverständlichen Behauptung von Legitimität und Verantwortung jetzt. Es gab keinen Gegenentwurf in den Kategorien der Macht, sondern nur deren Suspendierung wenigstens hier in dem Raum, den wir geöffnet hatten. Die Anmaßung der freien Rede in einem offenen, jedermann zugänglichen Gespräch war eine Form der Erfindung von Öffentlichkeit.
Dem bewußten Verzicht auf Einforderung von offizieller Anerkennung entsprach die Verweigerung, sich auf die vorgegeben Muster der Konfrontation mit den Herrschenden einzulassen. Natürlich war es auch ein Stück Autosuggestion. Die Illegalitätsschwellen niedrig zu halten, bedeutete – im Selbstverständnis derer, die sie überschritten – das Bewußtsein der Immigration in die Gesellschaft zu stärken, statt aus der Gesellschaft zu emigrieren.
Die Staatssicherheit hatte das verstanden und baute ein System innerer und äußerer Belagerungsringe auf, um die freie Kommunikation und Verständigung einzugrenzen. Für ihre Operationen gegen den Friedenskreis hatte sie den Code-Namen »Virus« gewählt.

Auf einem Bild Martin Hoffmanns aus dem Jahr 1993, Akten und Aussicht, sieht man auf einem Tisch ein weißes Blatt Papier. Daneben steht eine Teeschale und am rechten unteren Bildrand liegt ein geschlossener Aktenordner mit dem Siegel der Gauck-Behörde. Das Zimmer ist ruhig. Im Halbdunkel der linken Bildseite ist im Winkel des Zimmers der gebrochene Schattenriß eines Menschen erkennbar. Rechts davon, an der Stirnseite des Raumes, dringt durchs Fenster die neue, nicht mehr von Mauern begrenzte Aussicht auf den guten Stern aus Stuttgart. Die Botschaft von draußen heißt: „Feelin‘ light.“ Don’t worry, be happy. Das verriegelte Fenster trennt Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart ist das leere Blatt Papier. Martin Hoffmann ist bei seiner Arbeit geblieben.

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