Teilhaben
Beitrag zum Wettbewerb
für ein Denkmal
für die verschleppten
und ermordeten Juden Berlins
1988
Teilhaben
Mit neuen Gedanken
alt werden
Jung bleiben
an uralten Gedanken
Teilhaben
am unsterblichen Leben
unsterblichen Sterben
Rose Ausländer
I.
In Berlin leben heute sehr wenige Juden.
Der Toten der jüdischen Gemeinden gedenken: dies kann nur im Rahmen jüdischer Traditionen
und ihrer religiösen und kulturellen Kontinuität vollbracht werden.
Als Sohn von nicht-jüdischen Zeitgenossen der letzten vollzähligen Generation von Juden in Deutschland ist solches Gedenken mir nicht möglich.
Das folgende ist in seiner Zusammenstellung leicht mißverständlich, denn es geht
um jeweils einzigartiges und unvergleichbares Geschehen.
- Die von Hitler befohlenen und von deutschen Bürgern geplanten, organisierten
und betriebenen Vernichtungslager Auschwitz, Belzec, Chelmno, Majdanek, Sobibor
und Treblinka;
- die Liquidierung unzähliger und ungezählter Menschen während mehrerer
Terrorwellen
auf Befehl Stalins;
- die Abwürfe von Atombomben aus USA-Flugzeugen auf Hiroshima und
Nagasaki
nötigen mich,
• die Traditionen, Kategorien und Werte unserer europäischen Zivilisation
in Frage zu stellen: Die genannten
Verbrechen konnten nicht durch Widerstand
aus den jeweiligen Völkern verhindert werden
• an der (künstlerischen) Gestaltbarkeit von historischen Vorgängen und Abläufen
zu zweifeln.
SHOAH – das hebräische Wort für größtes Unglück, Katastrophe – kann meines
Erachtens nicht auf einen ästhetischen Begriff gebracht werden oder gar
mit einer in sich abgeschlos-senen Form erfaßt werden
• die traditionellen Form-Kriterien für Gestaltung als solchen Geschehen ungemäß
zu empfinden und zu erleben
• Sprache, Sätzen und Wörtern – auch den eigenen – zu mißtrauen, besonders, wenn
sie zu derartigen Katastrophen des menschlichen Daseins gesprochen oder
geschrieben werden.
II.
Jürgen Rennert:
Jude. Judentum. Jüdisch.
Was eigentlich meinen diese Begriffe? Wen und was vermögen sie wirklich zu bezeichnen?
Jedem ernsthaften Versuch, heute und hier eine bündige Antwort zu finden, sitzt die Angst
heilloser Erinnerung an die »Nürnberger Gesetze« im Nacken. In ihnen und durch sie wurde
vor einem Halbjahrhundert zu Tode definiert, wer Jude sei, wer Jude zu sein und
wer als Jude zu gelten habe; zum Kriterium wurde die haltlose Fiktion von einer»jüdischen Rasse«
aus dem Nachwort zu Der gute Ort in Weissensee
Mario Offenberg, Geschäftsführer der Gemeinde Adass Jisroel Berlin:
Vergangenheit präsent zu machen.
Erinnerung zu materialisieren versuchen.
Gedanken evozieren. Geschichte dokumentieren.
Aber:
Wie sich das Unvorstellbare vorstellen?
Wie das Unbegreifliche begreifen,
das Unbeschreibliche beschreiben?
Und:
Wie das Undarstellbare darstellen?
Solche Fragen benennen die Grenzen von menschlichem Geist und Gefühl, sich des Themas
der jüdischen Existenz und ihrer Vernichtung in Berlin zu nähern. Vor nicht allzu langer Zeit
wurden Juden unter deutscher Herrschaft, hierzulande und europaweit systematisch registriert,
allmählich und vollständig entrechtet, erniedrigt und gequält, gründlich ausgegrenzt und
ausgeplündert,
dann zusammengetrieben, in Vernichtungslager transportiert, millionenfach
umgebracht.
All dies geschah inmitten der Nachbarn und Kollegen und ermöglicht von einer technisch und
verwaltungsmäßig hochentwickelten Gesellschaftsorganisation. Nicht Monster aus dem All,
sondern
durchschnittliche Zeitgenossen haben das Verbrechen ausgetüftelt, es vorbereitet,
unterstützt, überwacht,
verübt, begleitet, davon profitiert, davon gewußt und zugestimmt,
davon gewußt und weggeguckt,
es geleugnet.
Die Einmaligkeit des Genozid an den Berliner, an den deutschen und europäischen Juden hat
epochale,
sprich gesellschaftliche und moralische – also zivilisatorische und kulturelle –
Maßstäbe verworfen.
aus seinem Artikel in Gedenken und Denkmal
III.
Öffentlich gedenken, öffentliches Gedenken:
• immer wieder und permanent das Geschehene zum öffentlichen Thema machen,
• seine Details erforschen und offenlegen, es öffentlich als Problem formulieren,
• möglichst viele Haltungen und Meinungen dazu veröffentlichen und
vorgefundene Positionen als historisch bedingt und gewachsen betrachten und
in offenen Formen und Foren diskutieren,
• keine Formulierung oder Form als abgeschlossen oder gar endgültig sehen.
Solch ein Prozeß muß zeitlich und inhaltlich ohne vorher gezogene Grenzen seine ihm innewohnende Dynamik entwickeln können.
Die »Kollektivschuld der Deutschen« ist ein sehr ungenauer Begriff – unter anderem, weil er Täter, ›Unbeteiligte‹ und die Widerstand-Leistenden pauschal zusammenfaßt –, dagegen ließe sich ein »kollektives Erinnern« konkretisieren und tätig umsetzen.
In vielfältigen Formen, an unterschiedlichen Themen, von einzelnen wie von Gruppen.
Mit manchmal darstellbaren Ergebnissen.
Je reicher das Spektrum derartiger Erinnerungsarbeiten
sein wird,
• desto sorgfältiger können Traditionen, Selbstverständnisse und Lebensweisen
jüdischer Menschen und Gemeinschaften kennengelernt und geachtet werden
• desto geringer die Gefahr endgültiger oder pauschaler Sätze zu diesem existenziell
wichtigen Thema
• desto aktivierender werden die Wahrnehmungen unser Leben begleiten und
unser Bewußtsein für Menschlichkeit vertiefen.
Trauer kann beginnen.
Und die Trauer wird unsentimental.
IV.
Themen, Fragen und Resultate von kollektiver Erinnerungsarbeit können formuliert werden, als Material öffentlich vorgelegt werden, so daß wir daran Vorstellungen, eigene Fragen, Assoziationen und Gefühle entwickeln können.
Veröffentlichung bedarf der Gestaltung.
Darum sollen Gestalter bei der Erarbeitung solchen Materials beteiligt sein. Ihre Ideen und Entwürfe müssen öffentlich präsent und diskutierbar sein.
Die hier vorgelegte Gestaltungskonzeption für den Koppenplatz bedarf unbedingt der öffentlichen Infragestellung und Diskussion.
Sollte danach eine bestätigte (von wem bestätigt? Von den Juroren des Wettbewerbs?) Konzeption vorliegen, so müßte eine Gruppe berufen werden, die die Umsetzung verantwortlich betreut.
V.
Mein Vorschlag für eine Gestaltung auf dem Koppenplatz möchte einen Ort aufbauen,
• dessen Gestalt unterschiedliche (darunter noch zu findende) Ausdrucksformen
einbezieht und verschiedene Rezeptionsweisen ansprechen kann
• für dessen Gestaltung viele Menschen (damit auch Institutionen) unserer Gesellschaft
ich mitverantwortlich fühlen müssen
• der nicht zu einem bestimmten Datum ›fertig‹ gestaltet sein wird
• der Ausgangs- und Zielpunkt eines gesellschaftlichen Klärungs- und
Verständigungsprozesses sein kann
• an dem historisches Material offengelegt und zur Sprache gebracht werden kann
• an dem Stationen auf den Wegen von kollektiver Erinnerungsarbeit dokumentiert
werden können
• der das Gewahrwerden des vergangenen Geschehens und unser Weiter-Leben
in Beziehung setzt.
Boden: 54 999 oder 55 001 ?
Zitat aus dem Wettbewerbsaufruf:
„Mit der sogenannten Endlösung der Judenfrage war das Schicksal von Millionen Juden,
unter ihnen 55 000 Berliner, durch Deportation und Gaskammer besiegelt.“
55 000 Zuschauer bei einem Fußballspiel.
›Fünfundfünfzigtausend‹ entzieht sich dem Mitfühlen
und Trauern,
es ist ein Wort für eine statistische Größe.
Ich schlage für die Gestaltung vor:
1.
Es werden Klinker, Spaltklinkerplatten oder Ähnliches angefertigt,
in die vor dem Brennen laufend die Zahlen
1, 2, 3 bis 55 000 eingestempelt werden.
In der Tradition der Kennzeichnung von Ziegelsteinen.
Eine mögliche Größe: 15 x 24 cm, Dicke entsprechend der Technologie.
2.
Die Steine werden so angeschlagen, daß eine Bruchkante entsteht oder ein Spalt.
Die Zahl jedoch muß unbeschädigt und lesbar bleiben.
3. Die Steine werden in der Mitte des Koppenplatzes verlegt:
– dicht bei dicht, so wie sie zusammenpassen, ohne auf die Zahlenfolge zu achten
– etliche in regelmäßiger Anordnung, so daß die sich ergebenden Linien die
Verbindungsgeraden eines Davidssterns markieren
4.
Listen mit Namen jüdischer Bürger und laufender Numerierung,
z.B. »Transportlisten«, können ganz oder teilweise in Stein oder Keramik
›faksimiliert‹ und ebenfalls verlegt werden. Die dabei auftauchenden Zahlen
sollen dann nicht noch einmal als Steine verlegt werden.
5.
Höchster Punkt des Bodens in diesem Bereich ist der Mittelpunkt des Davidssterns,
so daß das Wasser nach
den Rändern hin abfließen kann.
6.
Nach außen, zu den Gehbahnen hin, endet die beschriebene Pflasterung
ohne geradlinige oder gar rechtwinklige Ränder. Die verbleibenden Zwischenräume
zu den Gehwegplatten werden mit Kleinpflaster gefüllt.
7.
Wo es möglich ist, sollte dieses Pflaster in Erde verlegt werden.
Wenn dann zwischen den Steinen Gras sprießen sollte:
ein Gedenkzeichen lebt und wächst.
Ein Versuch,
• gewahr zu werden: lauter einzigartige Menschen-Leben
• die bürokratische Zählung und Aufreihung in dieser Mengenangabe
als anti-menschlich an sich zu erkennen
• ›Boden der Tatsachen‹ unter den Füßen
zu spüren.
Abschrift!
In der Geschichte des Lebens der Juden in Deutschland sind immer wieder Einschnitte auszumachen, die mit Edikten, Verordnungen und Gesetzen gekennzeichnet werden können.
Von der Zulassung zu begrenzten Lebens- und Geschäftsbereichen bis zur völligen Gleichstellung. Und über die Nürnberger Rassengesetze bis hin zur Anweisung, was auf dem Abtransport mitgeführt werden muß und darf.
Solche historischen Belege sollten im öffentlichen Bewußtsein vorhanden sein.
Mein Vorschlag hierzu:
1.
Eine Gruppe wird beauftragt, in Zusammenarbeit mit jüdischen und anderen
Archiven und Museen, die vorhandenen Belege dieser Art zu sichten und
für die Veröffentlichung auf dem Koppenplatz zusammenzustellen.
2.
Mittels eines geeigneten – Dauerhaftigkeit versprechenden – Verfahrens werden
solche Belege auf Metallplatten originalgetreu wiedergegeben. Wahrscheinlich
meistens vergrößert.
Als Verfahren kommen vielleicht Gravur, Ätzung oder Laserstrahlverfahren in Frage.
Die Metallplatten haben die Größe des Papierformates A 0, also 841 x 1 189 mm.
3. Es werden 24 solcher Platten gestaltet.
4.
Diese werden im Bereich des numerierten Pflasters verlegt. Und zwar so,
daß je 6 Platten einen rechten Winkel bilden,
der wiederum jeweils eine Ecke eines Rechteckes anzeichnet.
Dieser Teil der Gestaltungskonzeption beabsichtigt,
• Dokumente zugänglich zu machen, die für die Lebensweise jüdischer Berliner
besonders folgenschwere Auswirkungen hatten
• einer Abfolge staatlichen Handelns nachzugehen, bei dem jedesmal »die Juden«
als Objekt von Machtvollzug behandelt wurden
• die Sprache solcher Schriftstücke öffentlich lesbar werden zu lassen.
Säulen: Gedächtnis-Steine
Auch in der Geschichte des Lebens von Juden in Berlin gab und gibt es Personen,
die für hervorhebenswert gehalten werden. Hervorhebenswert in einem bestimmten Zusammenhang. Insofern auch für erinnerungswürdig als Einzelperson gehalten werden.
Solches Erinnern und Gedenken ist auf offenem Platz möglich.
Derartige Zusammenhänge könnten sein: Emanzipation und Ausgrenzung, Widerstand und Unterdrückung, Solidarität und Berühmtheit usw.
Hier nur zwei mögliche Beispiele:
der Philosoph Moses Mendelssohn und die Textilhändlerin Frau Jauch, die in Lichtenberg während des Krieges einen jüdischen Waisenjungen versteckte.
Für diesen Aspekt des Gedenkens schlage ich vor:
1.
Eine Gruppe bestimmt gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden und Einrichtungen
diejenigen Lebensbereiche, zu denen derart öffentlich erinnert werden soll.
2.
Es werden 6 Säulen und 6 Platten aus Stein angefertigt.
Ihre Formen nehmen Formen von Grabsteinen auf den Berliner jüdischen Friedhöfen
auf.
3.
Die Aufstellung soll so erfolgen:
Die Säulen stehen in den Spitzen eines sechseckigen Sterns, und die Platten stehen
auf den Schnittpunkten der Verbindungsgeraden, eine breite Fläche dem Mittelpunkt
zugewandt.
4.
Die erarbeiteten Texte oder bildkünstlerischen Aufgabenstellungen
(z.B. Porträtrelief) werden Steinmetzen und Bildhauern zur Ausführung übergeben.
5.
Die Arbeiten von 1. und 4. sollten im Laufe mehrerer Jahre erfolgen,
während die Steine auf einmal zugleich aufgerichtet werden.
Es ist bedenkenswert, später sogar fertig gestaltete Steine auszuwechseln.
Die bisherigen könnten dann zur Dokumentation an einer geeigneten Stelle des Koppenplatzes aufgestellt werden.
Hiermit soll Raum gegeben werden
• für die würdevolle Ehrung einzelner Menschen und ihrer Leistungen
• um den Beitrag von Juden zu dem Kulturgebilde ›Stadt Berlin‹ aufzuzeigen
• für ein ehrendes Gedenken an Menschen, die Antisemitismus und Ausrottungspolitik
aktiven Widerstand entgegengesetzten
• für ein weites Zurückblicken in die Geschichte jüdischen Lebens in Berlin, es lebten ja
hier viele Generationen vor den Opfern des Naziterrors.
Meistens war Alltag
Worin unterschied sich das Alltags-Leben der Juden in Berlin von dem der Nicht-Juden?
Unterschied es sich überhaupt? Welche Besonderheiten – über die religiös bestimmten hinaus – lassen sich belegen und vielleicht darstellen? Gab es eine jüdische Volkskultur?
Wenn nicht jetzt die wenigen Überlebenden danach befragt werden, wird dieser Bestandteil
Berliner Kultur und Lebensweise als lebendige Erinnerung untergegangen sein.
Zur Annäherung an diese beseitigte Lebenswelt
schlage ich vor:
1.
Eine Gruppe befragt Überlebende nach ihren Alltagen
im Januar 1933 · im Oktober · im November 1938
oder in einem anderen relativ eng gefaßten Zeitraum.
2.
Die Gruppe wertet Archivmaterial und alte Zeitungen aus unter dem Gesichtspunkt,
wie normal und vielfältig diese Alltage waren.
3.
Vom vorhandenen Material her wird ein solcher Zeitraum ausgewählt.
4.
Es wird eine Litfaßsäule aufgestellt, in Form und Größe der aktuellen gleich.
5.
Die ›Klebefläche‹ dieser Litfaßsäule wird mit Abbildungen des erarbeiteten Materials
graphisch gestaltet.
6.
Diese Gestaltung wird dauerhaft gemacht.
Ein mögliches Verfahren: Die Gestaltung wird fotomechanisch auf Offsetdruckplatten
übertragen und die Platten wetterfest konserviert.
Hier soll wachgehalten werden,
• welchen Reichtum an Kultur- und Lebensformen, an Angeboten und Aktivitäten
es bei den jüdischen Bürgern Berlins gab
• daß die Leben der Juden von Berlin nicht von heute aus auf ihr Ende durch staatlich
organisierten Massenmord verkürzt werden dürfen
• die Trauer um den unwiederbringlichen Verlust, der der Stadt Berlin beigefügt wurde.
Figuren: Vor aller Augen
Von Anfang an hatte Hitler die Beseitigung der Juden als »Rasse« zum konstitutiven Ziel seiner Politik erklärt, und zwar öffentlich.
Dies traf auf eine lange und weit verbreitete Tradition von Antisemitismus und Intoleranz.
Was die nicht-jüdischen Einwohner Deutschlands nach dem November 1938 noch wider die Vertreibungs- und Vernichtungspolitik gegen Juden wirksam hätten tun können, muß fraglich bleiben und kann hier nicht erörtert werden. Auch nicht, warum und wie Schritt für Schritt dieses Mord-Programm vom größten Teil der Bevölkerung Deutschlands zumindest hingenommen wurde.
Ich muß die Tatsache hinnehmen, daß es in der Generation meiner Eltern weniger Menschen gab, die Juden schützten, ihnen halfen oder sie sogar versteckten, als solche, die gerne von der sogenannten »Arisierung« profitierten oder später dann Juden und ihre Freunde anzeigten oder auslieferten.
Es wurde das eigene ›normale‹ Leben weiter gelebt. Was blieb anderes übrig ?
Um auf diese Thematik einzugehen, schlage ich vor:
1.
Es wird eine Vorrichtung zum Gießen von Beton-Scheiben gebaut.
Scheibendicke etwa 10 cm.
Der Rand dieser Scheiben wird mit biegbaren Metallstreifen ausgeformt.
Armierungen können eingelegt
und eine Unterkonstruktion zum Aufstellen
angegossen werden.
2.
Mit dieser Vorrichtung stellen Gestalter lebensgroße Menschendarstellungen her.
In mehr oder weniger alltäglichen Haltungen.
Es wird die Tradition der Schattenrisse aufgenommen.
3.
Diese Art Figuren erlaubt ein Wechselspiel zwischen Individualisierung – mittels Gestik und
der Unterschiedlichkeit der Gestalter – und Vereinheitlichung durch das gleiche Material und die
gleichbleibende bildnerische Codierung.
So wird auch eine Gestaltung von Gruppensituationen möglich.
Z.B. die, die auf dem Foto zu sehen ist, also:
Berliner beobachten, wie Berliner als »Juden« abgeführt werden.
4.
Die Gestaltung solcher Figuren sollte über Jahre hin geschehen.
So könnte eine Tradition begründet werden.
5.
Die Standorte solcher Figuren werden von einer Gruppe gemeinsam mit dem
jeweiligen Gestalter bestimmt.
Die Aufstellung im Bereich des numerierten Pflasters soll so erfolgen,
daß die Figuren außerhalb des Davidssterns locker verteilt stehen.
Aber gegenüber dem Schulgebäude so beieinander, daß die Situation wie auf dem
eingangs abgebildeten Foto entsteht,
also als ob die Figuren der Abführung von
Menschen auf dem Fahrdamm zuschauten.
6.
Die Figuren werden in einem Turnus aufgestellt.
Ein jährliches Datum könnte der 9. November sein.
7.
Die Aufstellung der Figuren könnte Anlaß für einen Verkauf von Kunstwerken sein,
die Künstler zum Gedenken gespendet haben. Der Erlös trüge dann zur
Finanzierung der Gestaltungs- und Erhaltungsarbeiten bei.
Es wird hiermit gewagt,
• viele Gestalter zur Arbeit mit einer bildnerischen Methode aufzurufen
• Arbeitsergebnisse mehrerer Gestalter als Beiträge innerhalb einer Gestaltungsabsicht
zu benutzen
• Reaktionen, Haltungen und Verhalten von Menschen bildnerisch zu formulieren
und dies noch in Gruppensituationen.
Worte hierfür könnten sein: ›Zuschauen‹, ›Neugierde‹, ›Wegsehen‹, ›Man kann ja doch
nichts dagegen tun‹, ›Das sind doch die andern‹, ›Geschieht ihnen recht‹, ›Noch mal
davongekommen‹, ›So Schlimmes wird ihnen schon nicht passieren‹, ›Das ist ja
entsetzlich!‹, ›Diese Schuld wird über uns kommen‹ und viele andere mehr
• die Haltungen ›Weiter leben‹ oder ›Heute haben wir unser Leben zu leben‹ oder …
in direkte Beziehung zum Gedenken an den industriell begangenen Massenmord
zu setzen.
Stummer Portier: Jeder hat seinen Namen
Sie bewohnten Wohnungen in den Häusern Berlins.
Im Scheunenviertel hatten viele der sogenannten »Ostjuden« Unterkunft gefunden.
»Die Juden« wurden als besondere Bevölkerungsgruppe aufgefaßt.
Und dann als »Juden« toleriert oder …
Ab 1933 wurde die Ausgrenzung von Gesetz zu Gesetz oder per Verordnung stufenweise verschärft. Schließlich wurden Menschen mittels Kennkarten, der zusätzlichen Namen Sara oder Israel, des aufzunähenden sechszackigen Sterns und … als Angehörige des Feindes »die Juden« unkenntlich gestempelt.
Viele der Häuser stehen noch, sie sind mitunter modernisiert oder durch Neubauten ersetzt worden. Die Straßen sind geblieben, wenn auch manchmal mit verändertem Namen.
Die Wohn-Orte sind also erkennbar.
Wir können der jüdischen Bürger Berlins gedenken,
• indem wir nach ihren Namen forschen - es sind zum Beispiel noch etliche
Transportlistenauffindbar - und auf diese Weise wenigstens posthum ihre
Individualitäten achten
• und dann an ihren Lebensorten ihre Namen dauerhaft anschreiben, so könnten wir
dokumentieren, daß die Menschen nicht endgültig vergessen worden sind.
Dazu schlage ich vor:
1.
Für ein bestimmtes Haus übernimmt eine Gruppe – Heimatforscher, Historiker, Schüler, …
die Suche nach den Namen und Schicksalen der ehemaligen jüdischen Bewohner.
Dies sollte nicht auf die später Deportierten beschränkt bleiben, sondern möglichst weit
in die Geschichte des Hauses zurückverfolgt werden.
2.
Es werden Tafeln gestaltet, auf denen die gefundenen Namen dauerhaft angeschrieben werden.
Eine Berliner Tradition aufnehmend, schlage ich das Prinzip des »Stummen Portiers«
(Holztafel im Hausflur mit Rahmen, in die Kärtchen mit den Namen der Mieter und Vermieter
eingeschoben werden) vor.
3.
Institutionen, Organisationen, Betriebe oder einzelne finanzieren Nachforschungen
und Gestaltung für jeweils ein Haus.
4.
Die Tafeln werden in den Häusern im Treppenhaus oder in der Tordurchfahrt angebracht.
Auch in den Neubauten.
5. Es sollten bei den Namen angegeben sein:
• alle Familienmitglieder
• Fakten und Daten zu Einzug und Auszug
• die jeweilige Wohnung
• wer die Angaben erarbeitet hat und mit welchen Quellen
• wer die Tafel finanziert hat.
6. Die Schilder für die Bewohner sollten die Größe einer Postkarte haben.
7. Bei Schulen und anderen ehemaligen jüdischen Gemeinschaftseinrichtungen sollte entsprechend
verfahren werden. (Beispiel Auguststraße 14-16, hier befanden sich mehrere Schulen,
ein Kinderheim etc.)
Ein Versuch,
• ›die Toten‹ und ›die Opfer‹ als Einzelschicksale kenntlich
zu machen
• sie und die Geschehnisse in täglicher Beziehung mit unserem Alltag wahrzunehmen,
ihnen Raum im persönlichen und im kollektiven Bewußtsein zu eröffnen
• statt sentimentalen Schuldgefühlen möglichst sensible und aus persönlicher Betroffenheit
herrührende Aufmerksamkeit gegenüber Intoleranz und für entfernt gehaltene Unmenschlichkeit
hervorzurufen.
Grüngestaltung und andere gestalterischen Aktivitäten
1.
Alle vorhandenen Bäume sollen stehenbleiben.
Eine Vervollständigung der Baumreihe vor den Häusern Koppenplatz 5-7
sollte bedacht werden.
2.
Der Spielplatz wird als Anlage auf die Hochfläche verlegt, d.h. über den Bunker.
Eine erlebbare Aussage an sich.
Der Spielplatz dort ist entweder von Vegetation umgeben oder
wird mit einem Geländer eingefaßt.
Die Gestaltung des Spielplatzes habe ich nicht konzipiert.
Mit welchem Charakter und Aufwand (gestalterisch und finanziell), dies sollte
nach einer Entscheidung über die Denkmal-Anlage konzipiert werden.
3.
Gedenk-Ort und Spielplatz werden mit einer großen Freitreppe verbunden,
auf der man auch gut sitzen kann.
4.
Eine Ecke des Bunkers wird freigelegt und als Ecke eines ehemaligen Bunkers
kenntlich gestaltet. Damit wären ›Krieg‹ und ›Bombardierung Berlins‹
als Ausgrabung erlebbar vorhanden.
Sie stehen ja in direktem Zusammenhang zum Geschehen,
an das erinnert werden soll.
5.
Die Ummauerung der Beete im Bereich der Hochfläche bleibt erhalten,
sie sollte ausgebessert werden.
An zwei Stellen wird sie verändert: zu beiden Seiten der Freitreppe.
6.
Vor den Häusern Koppenplatz 5 bis 11 sollte eine Gehbahn aus Granitplatten
gelegt werden.
7.
Die vorhandene Litfaßsäule müßte ein wenig zur Ecke hin versetzt werden.
8.
Sitzbänke sollte es im Bereich des numerierten Pflasters nicht geben.
Sie könnten aber sehr gut vor den umliegenden Häusern aufgestellt werden,
auf dem Spielplatz sowieso.
9.
Eine Nutzung der beiden Gehwege vor den Häusern Koppenplatz 5 bis 11
als Platz für einen kleinen Wochenmarkt entspräche der Gestaltungsabsicht
für den Gedenk-Ort genau.
Eine erlebbare Einheit von heutigem Leben und dem Erinnern an die jüdischen
Bürger Berlins könnte entstehen.
Zu den Kosten der Gestaltung
Die ›künstlerischen‹ Kosten für die vorgelegte Gestaltungskonzeption werden relativ gering sein. Höher dagegen der Aufwand für Organisation und Recherchen.
Die entstehenden Materialkosten schätze ich als relativ niedrig ein. Künstlerhonorare müßten für jeweils kleinere Aufgaben zu zahlen sein, etwa die Gestaltung einer Figur,
der Litfaßsäule oder eines Gedächtnis-Steins.
Der finanzielle Aufwand würde sich über etliche Jahre verteilen. Verringert würde er durch die beschriebenen Verkaufserlöse.
Anmerkung - 2012
Der Entwurf ist ein Ergebnis jahrelanger Beschäftigung mit diesem »deutschen« Thema.
Mein Vater hätte ein Täter sein können. Mein damaliges - 1988 - Atelier befand sich in einem Haus, das ca. 300 m von der damaligen Berliner Mauer stand. Während ich an diesem Entwurf arbeitete, hörte ich im Radio
auch Meldungen darüber, dass an der innerdeutschen Grenze auf Flüchtlinge geschossen worden war.
Zwei Plakate entstanden im Jahr 1985 zum Tag der Befreiung:
und
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