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Christian Lehnert

Rede zur Finissage der Ausstellung Martin Hoffmann
am 19. März 2010 in der Evangelischen Akademie Lutherstadt Wittenberg

Gesichter tauchen neblig aus dem offenen Raum. Sie nehmen Gestalt an und verschwimmen zugleich. Sie beginnen eine Geschichte zu erzählen und plötzlich schweigen sie wieder, verstummen und tauchen in einen Dunstschleier zurück. Mal erscheinen sie wie bekannte Gesichter auf der Straße, wie Passanten, die vorüberziehen, dann wie Erinnerungen aus ferner Zeit, dann wieder wie Masken voll von archaischer Kraft und vermischt mit einer seltsamen Fremde.
Die Köpfe Martin Hoffmanns sind bewegliche Wesen. In den Wochen, in denen sie hier seit Oktober letzten Jahres hingen, haben sie sich für mich im täglichen Umgang oft verwandelt. Es gab überraschende Momente, wenn ich an manchem Vormittag vor einer Tagung in diesen Saal kam und sie immer anders waren, manchmal wissend lächelnd, manchmal stumm.

Ich habe über diesen Köpfen ganz neu darüber nachgedacht, was eigentlich ein Gesicht ist. Das Wort scheint schon alles zu sagen: eben das zuerst Sichtbare am Menschen. Aber ganz so einfach ist es nicht, das haben mir diese Köpfe gezeigt, die zwar immer sichtbar aber nie dieselben sind. »Prósopon« – der griechische Ausdruck für das Gesicht - bringt das besser zum Ausdruck. »Prósopon« bezeichnet im griechischen Wortsinn das, was jemand der Sicht des anderen entgegenbringt. Das Gesicht ist also etwas, was jemand zeigt. Es ist nicht einfach da, sondern es wird von dem, der es zeigt, und von dem, der es betrachtet, auch gemacht. Menschen haben ihr Gesicht nicht für sich, sondern für andere. Was ein Gesicht ist, vollzieht sich zwischen Menschen.
Menschen hatten nicht immer Gesichter. Ein Gesicht zu haben, ist eine späte geschichtliche Erscheinung. Sie entzündete sich in Europa an Christusbildern. Die Porträtkunst und die Erfindung des Gesichtes nahmen mit den Christusbildern der Passion und den orthodoxen Verklärungsdarstellungen ihren Ausgang. Von dort her gingen sie den Weg ins Freie, in die aristokratische und bürgerliche Selbstdarstellung.
Den französischen Philosophen Gille Deleuze hat dieser Fakt zu folgenden Sätzen über die Menschen der prähistorischen Zeit verleitet: „Die Primitiven haben kein Gesicht und brauchen keins. Und zwar aus einem einfachen Grund. Das Gesicht ist nichts Universelles … Das Gesicht ist Christus, das Gesicht ist der typische Europäer …“ Um das zu verstehen, muss man sich nur vor Augen halten, dass der Spiegel eine ganz junge Erfahrung im Alltag des Menschen ist. Für den antiken Menschen noch war er ein Mysterium voller Gefahren. Sich selbst anzuschauen? Wer zeigt da wem sein Gesicht?
Diese Köpfe hier, die Collagen Martin Hoffmanns sind also Gesichter im Wortsinn. Sie tauchen auf aus kleinen Stücken Papier, die übereinander geklebt sind. Sie werden sichtbar, das heißt, sie zeigen etwas, was dann im Kopf des Betrachters Wirklichkeit wird. Die »Köpfe« Martin Hoffmanns bergen in ihrer Einfachheit und Kraft viele Gedanken über den Menschen. Was heißt es etwa, das diese Wesen eben aus lauter kleinen Fetzen zusammengesetzt sind? Zerrissene Substanz, die eine fragile Einheit bildet? Aber was ist der überhaupt der Kern dieser Einheit, dieser Schattenwesen?
Nur ein Detail zu ihrer Verwandelbarkeit: Während diese Ausstellung hier hing, schossen über Wochen tausendfach die Porträts des toten Michael Jackson über die Bildschirme. Das hat meine Sicht beeinflusst. Unsere Zeit weiß doch genau, was »Prósopon« auch bedeuten kann - die massiven Eingriffe in das, was ein Gesicht darstellen soll. Die Gesichtoperationen Michael Jacksons sind nichts weiter als ein Gesichtverlust um des Gesichtes willen. Prósopon – das ist im Griechischen auch die Maske. Das eigene Gesicht bleibt dem Menschen eben immer auch etwas Fremdes. So habe ich dann auch diese Köpfe erlebt. Sie sind in gewisser Hinsicht auch einfach nur gemacht.
„Kunst muss klären.“ – so nannte Martin Hoffmann in einem Interview einmal einen Leitsatz seiner künstlerischen Bemühungen.
In diesen Köpfen wird nicht mehr und nicht weniger klar als das, was ein Gesicht ist.

Einen Grund für ihre Nähe zu mir glaube ich, erkannt zu haben. Diese Gesichter suchen Nähe, sie suchen das Beteiligtsein. Wir haben das in den letzten Wochen hier in der Akademie erlebt, wie diese Köpfe dabei waren, bei Lesungen von Hartmut Lange oder Volker Braun, bei Tagungen und bei Diskussionen.
Ich hatte den Eindruck, diese Köpfe fühlten sich hier wohl. Sie waren dabei, sie haben den Raum verwandelt. Ich vermute, diese Köpfe vertragen keine Einsamkeit.
Martin Hoffmann hat als Künstler eine große Bandbreite von Formen. Zwei Bilder, die über die Köpfe hinausweisen auf sein weiteres Schaffen hängen hier im Flur. Es sind plakatartige Werke mit klaren semantischen Profilen: Hier will jemand etwas sagen. Da hängt ein Porträt, geklebt aus lauter Strichcodes – das spricht für sich.
Martin Hoffmann hat in den 1970er und 80er Jahren Graphiken in einem fast bedrohlichen Purismus gestaltet. Da waren keine Menschen zu sehen, nur kahle Dinge und Räume. Sie trugen die bezeichnenden Titel: U-Bahnhof (Einfahrt), Die Tür und das Zimmer, S-Bahnhof-Treppe oder Fußgängerunterführung. Der Mensch - das war eine Leerstelle in diesen Bildern. „Kunst“, so Martin Hoffmann, „muss darauf bestehen, dass jede Entwicklung dahin gerichtet ist, der Würde des Einzelnen Raum zu schaffen.“ Leere Räume waren die konsequente Reaktion auf eine Gesellschaft in der DDR, wo eben kein Raum war für die Würde des Einzelnen.
Heute findet die Verpflichtung der Kunst gegenüber der Würde des Einzelnen ihren Ausdruck in Collagen. Fragile Gebilde, eben entstanden und kurz vor dem Zerfall, Gebilde, die die ganze Fraglichkeit menschlicher Identität in unserer heutigen ökonomisierten und medial geformten, schnellen Welt zeigen. Dabei sind sie schön und voller Kraft.
Es gäbe viel zu sagen zu Martin Hoffmanns brisanter Plakatkunst, vor allem aber auch zu seinen ­Arbeiten an Büchern, illustrierend, umhüllend, ja das Buch selbst formend. Dazu muss ein anderes Mal Zeit sein – vielleicht ja im Rahmen einer Ausstellung zu seiner Druckgraphik. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit.

 

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